Gertrud Heinzelmann
Frau und Konzil – Hoffnung und Erwartung.
Eingabe an die Hohe Vorbereitende Kommission des II. Vatikanischen Konzils vom 23. Mai 1962
Ich ergreife das Wort als eine Frau unserer Zeit1, die durch Studium, Beruf und eine langjährige Tätigkeit in der Frauenbewegung die Nöte und Probleme ihrer Schwestern kennt. Ich wende mich an Sie in der Hoffnung, dass meiner Eingabe die Beachtung zukomme, die sie nach dem Ernst und der Schwere ihres Inhaltes verdient. Denn indem ich meinen Gedanken Ausdruck gebe, empfinde ich mich als Schwester aller Schwestern. Meine Worte möchte ich verstanden wissen als Klage und Anklage einer halben Menschheit - der weiblichen Menschheit, die während Jahrtausenden unterdrückt wurde und an deren Unterdrückung die Kirche durch ihre Theorie von der Frau in einer das christliche Bewusstsein schwer verletzenden Weise beteiligt war und beteiligt ist.2
Unzweifelhaft hat der hl. Thomas von Aquin aus pseudowissenschaftlichen Annahmen, aus Wahrscheinlichkeiten, die dem Entwicklungsstand seiner Zeit entsprachen, eine Theorie über die Frau entwickelt, welche nach den eingangs erwähnten Formalakten implicite als die offizielle Lehre der Kirche von der Frau angesehen werden muss und tatsächlich auch heute das für die rechtliche und liturgische Stellung der Frau entscheidende Gedankengut darstellt. Diese ‚Wahrscheinlichkeiten’ erweisen sich beim heutigen Stand der Forschung als falsche naturwissenschaftliche Annahmen. Dieselben führen nun aber bei Thomas zu Behauptungen und Schlüssen, welche die Frau in ihrer Geistigkeit und in ihrer auf dem Geist beruhenden Menschenwürde auf das schwerste verletzen.3
Diese Lehre, nach thomistischer Methode auf die Frau übertragen, führt zu der durch unzählige Zitate zu belegenden Auffassung, dass sie im Verhältnis zum Mann unvollkommen, niedrig, mangelhaft und schwach ist. Von irgendwelchen Vorzügen auf ihrer Seite im Verhältnis zum Mann oder von sich gegenseitig ergänzenden Fähigkeiten ist nicht die Rede. Die Frau hat ihre Funktion im Werk des Erzeugens – sie ist in erster Linie Geschlechtswesen –, und darin vertritt sie das Prinzip des ‚Stoffes’, des passiven Empfangens. Erst in zweiter Linie ist sie dem Manne auch verbunden wegen der Bedürfnisse des häuslichen Lebens. Alle weiteren Gesichtspunkte zur Beurteilung der Frau fehlen. Auf alle Fälle aber ist der Stand der Frau derjenige einer vollständigen Unterwerfung unter den Mann.4
Es ist aber selbstverständlich, dass die Tätigkeit der Frau im öffentlichen Leben – das heisst im politischen, sozialen und beruflichen Leben – sich nicht stützen kann auf die thomistische Lehre von der unbedingten Untertanschaft der Frau unter den Mann, ihrer Niedrigkeit, Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit im Verhältnis zum Mann. (...)
Wenn die Kirche trotz bestehender Gegenströmungen an der thomistischen Lehre als ihrer offiziellen Lehre festhält, möge sie wenigstens aus den Ausführungen des hl. Thomas von Aquin über die ‚vernünftige Seele, das Erkennungsprinzip, das vernünftige Tätigkeitsprinzip, Vernunft, Verstand, Form’ usw. bezüglich der Frau jene Schlüsse ziehen, die sich als notwendig aufdrängen. Denn diese ‚vernünftige Seele’ in all ihren verschiedenen Aspekten lebt in der Frau in gleicher Weise wie im Mann.5
Obwohl Mann und Frau in derselben Weise durch die Taufe die Gewalt erhalten, alle andern Sakramente empfangen zu können, weigert sich die katholische Kirche bis heute, die Frau zum Priester zu weihen. (...) Die persönliche Voraussetzung, die Thomas von Aquin zur Priesterweihe verlangt, dass nämlich der Kandidat soviel wissen müsse, als genüge, um die Tätigkeit des Priesters gebührend auszuüben, kann durch die Frau ebenso gut geleistet werden wie durch den Mann. Dies beweisen zur Genüge die Akademikerinnen, die an allen Fakultäten der modernen Universitäten ihre akademischen Grade erwerben.6
Der Ausschuss der Frau vom Priestertum und das sie seit bald zwei Jahrtausenden belastende Redeverbot lassen sich nach der thomistischen Lehre mit keinen Gründen belegen, die in der vernünftigen Seele des Menschen und deren Vermögen liegen oder aus dem Wesen des ‚sakramentalen Charakters’ hervorgehen. Sie finden ihre Begründung einzig und allein in der Unterwürfigkeit oder Untertanschaft der Frau, die zur Zeit des hl. Thomas von Aquin zurückgeführt wurde:
- auf das bereits dargelegte Missverständnis des Zeugungsvorgangs;
- auf die rechtliche Unselbständigkeit und Abhängigkeit, die jede Frau während der ganzen Dauer ihres Lebens unter die Vormundschaft des Vaters, des Ehemannes oder eines andern männlichen Vormundes stellte;
- auf die Genesis.7
Die UNO, jeder Kulturstaat, zahllose Vereinigungen fortschrittlich gesinnter Menschen setzen sich zum Ziel, die alten Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts zu eliminieren. Wenn die Kirche in der Enzyklika Aeterni Patris, im liturgischen Gebet am Fest des hl. Thomas und in CIC can. 1366 § 2 implicite an den geschilderten Lehren von der Frau als ihrer offiziellen Lehre festhält, setzt sie in Widerspruch mit den besten und menschlichsten Bestrebungen unserer Zeit. Sie sieht über die Tatsache hinweg, dass ohne sie und sehr oft in Widerspruch zu ihr und zu ihrer offiziellen Lehre die Menschheit in den letzten Jahrhunderten auf den verschiedensten Lebensgebiete grosse Entwicklungen durchlaufen hat. (...)
Durch ihre Treue, ihre tiefen religiösen Bedürfnisse und ihren Dienst in der Kindererziehung sind die Frauen eine wesentliche Stütze der Kirche. Ob sie sich zu dieser Hingabe noch entschliessen könnten, wenn ihnen die offizielle Lehre der Kirche von der Frau bekannt wäre, ist eine Frage für sich. Bei der heutigen Spezialisierung des Wissens und der Intensität der beruflichen Beanspruchung ist es nur sehr wenigen Frauen möglich, sich eine Übersicht über die offizielle Lehre der Kirche von der Frau zu verschaffen. Es ist aber anzunehmen, dass eine bessere und vor allem verbreitetere Kenntnis der offiziellen kirchlichen Lehre die moderne Frau in ihrer Haltung gegenüber der Kirche ganz wesentlich ernüchtern könnte.8
Jeder mässig begabte Mann, der in der Lage ist, sich das vorgeschriebene theologische Wissen anzueignen, wird zum Priester geweiht und zum Wort in der Kirche zugelassen. Jede Frau – auch die hochgeistige, deren Schriften weltweite Verbreitung und Anerkennung finden – wird vom Priestertum und vom Wort in der Kirche ausgeschlossen. (...) Die thomistische als die offizielle kirchliche Lehre besitzt in ihren Anschauungen über die vernünftige Seele, die Seelenvermögen, den sakramentalen Charakter usw. hinreichende Voraussetzungen, um zugunsten der Frau, ihrer geistigen Bedeutung, und ihrer Berufung zu Priestertum und Wort die notwendigen logischen Schlüsse zu ziehen und die aus naturwissenschaftlich falschen sowie aus rechtlich überholten Prämissen deduzierten Schlüsse inhaltlich zu überwinden und formgerecht auszuklammern.
Meine Eingabe schliesse ich in der Hoffnung, es sei mir gelungen, darzulegen, wie beleidigend und erniedrigend Wertung und Stellung der Frauen – also der halben Menschheit – in der Kirche nach deren offizieller Lehre ist und wie sehr das in dieser halben Menschheit verkörperte geistige Menschentum in Entfaltung, Tätigkeit und Ausdruck behindert und unterdrückt wird. Ich schreibe ohne Auftrag, aber – wie eingangs erwähnt – als Schwester aller Schwestern im unmissverständlichen Antrieb, das zu tun, was die Stunde erfordert.
Papst und Konzil wünsche ich den Segen Christi und begrüsse beide im Ausdruck christlicher Liebe.9
1 Sämtliche Zitate stammen aus: Gertrud Heinzelmann: Wir schweigen nicht länger! We Won’t Keep Silence Any Longer! Frauen äussern sich zum II. Vatikanischen Konzil. Women Speak Out to Vatican Council II, Interfeminas-Verlag Zürich, o.D., S. 20 – 44. Erstdruck der Konzilseingabe an die Hohe Vorbereitende Kommission des II. Vatikanischen Konzils in: Die Staatsbürgerin, Juli/ August 1962, 18. Jg., Nr. 7/8.
2 Gertrud Heinzelmann: Wir schweigen nicht länger!, S.20.
3 Ebd., S. 22.
4 Ebd., S. 25.
5 Ebd., S. 31.
6 Ebd., S. 36f.
7 Ebd., S. 39.
8 Ebd., S. 41f.
9 Ebd., S. 44.